Vor nahezu zweitausend Jahren kroch
die Menschheit in den Kinderschuhen noch.
Gesetz war ihr der Sinne rohe Triebe;
kaum wuszte sie von edler Nächstenliebe.
Ein Menschenleben damals wenig galt,
denn höher als das Recht stand die Gewalt,
und List, Verrat und Heuchelei
bedienten feig die Tyrannei.
Da ward der Welt die Lieb geschenkt,
die selbstlos stets des Nächsten denkt;
und seitdem lag der Menschheit bestes Teil,
das wahre Leben und der Seele Heil,
in dem, was kam von Bethlehem.
Auch heut ist Bethlehem in aller Munde,
doch anders klingt die damals frohe Kunde.
Nicht Leben, nein, Vernichtung kommt von dort;
und Liebe nicht, nein „Gold“ ist Losungswort.
Der Pharisäer wieder ist am Ruder,
der Waffenschachrer opfert gern den Bruder,
das Volk, von dem die Väter ihm entsprossen,
von dem sein Land nur Gutes hat genossen.
Und tausende im Todeskampf die Fäuste ballen
und tausende von bleichen Frauenlippen lallen
und tausende von Kinderaugen, die vergebens suchen
den Vater — alle, alle fluchen — fluchen
den Wucherern von Bethlehem. —
Fürwahr, die Menschheit bracht es herrlich weit:
Zum Tier zergeht sie vor Barmherzigkeit,
und zum Verbrecher. Betend knien sie alle
am Kreuz von Bethlehem in stiller Halle,
doch starb in keinem ganz Ischariot:
Das goldne Kalb ist noch der Menschheit Gott.
So läszt ein Volk — es dünkt sich ohnegleichen —
sich willig schänden mit dem Kainszeichen!
Und ewig wird der Schandfleck bleiben,
so lange Klio wird Geschichte schreiben.
Und von Columbias Söhnen wird sich grämen
so mancher, von den schlechtsten nicht — sich schämen
der Wucherer von Bethlehem. —
Hermann Brandau.