Der gold’ne Strahl der kaum erwachten Sonne
Liegt glitzernd auf dem taubenetzten Gras,
Und übergiesst die Flur mit Glanz und Wonne.
Ein junges, munt’res Reh hüpft wohlgemut,
Den Durst zu stillen, an den nahen Bach,
In dessen Wellen das lichte Himmelsblau,
Der gold’ne Sonnenschein
Klar wie in einem Spiegel ihm entgegenlacht.
Wie ist doch Gottes Welt so schön!
Es jubiliert in allen Zweigen,
Und selbst der Mücken munt’re Schar
Schwingt sich in ausgelassnem Reigen.
Es summt und klingt in Laub und Busch,
Und was im Wasser lebt, strebt froh empor zum Licht.
Dem Schöpfer stillen Dank im Herzen,
Beugt sich das Reh hinab zur kühlen Flut,
Die plätschernd nach dem nahen Tale eilt;
Begierig schlürft’s den frischen Trank —
Da sieht’s, zum Sprung bereit,
Voll Mordbegier, im klaren Wasserspiegel,
Den mitleidlosen Feind, den Wolf, an seiner Seite steh’n;
Fühlt seinen heissen Atem an den Wangen.
Entsetzt springt es zurück und hilf- und wehrlos
Sinkt’s in seine Kniee. “Hab’ Mitleid, Wolf,
Mit meinem zarten Leben! Was tat ich dir?
Warum verfolgst du mich
Und strebst mir nach dem Leben?
Hat nicht der Schöpfer, der allgütige,
Diese schöne Welt zur Freude dir und mir gegeben?
Und Lieb’ und Frieden predigt die Natur?”
“Genug der Worte,” ruft der Wolf, “der Schöpfer selbst
Hat in die Brust die Mordlust mir gelegt,
Der ich nicht widerstehen kann, soll nicht
Der Hunger mich und meine Brut vernichten!
Mein bist du, Reh! vom allmächt’gen Schöpfer,
Der alle Kreatur in seinen Willen zwingt
Und ohne Mitleid Tod und Verderben duldet,
Mir in den Weg gesandt.”
“Ist nicht in deiner Brust ein Fünkchen Mitleid, Wolf?”
So fleht das Reh: “Kannst du mich angesichts des Schöpfers
Morden? Mich, das arme, wehrlose Reh,
Das keinem je ein Leid getan?”
“Umsonst dein Flehen, armes Reh;
Hetzt doch der Mensch, das Ebenbild des Schöpfers,
Mit gleicher Mordlust dich und mich, und hat nicht ihn,
Wie dich und mich, der gleiche Gott geschaffen?
Nicht mich, den Schöpfer klage an!”—
Ein Sprung, ein Schrei, ein Biss, ein Todesröcheln,
Um’s arme Reh war es getan, und blutgetränkt
Ward Gottes schöne, blumbesäte Erde.
Begierig schlürft der Wolf das warme Blut des Rehs
Und reisst den zarten Leib des Tiers in Stücke,
Die besten Teile aufsparend für die junge Brut,
Die schmachtend seiner Rückkehr harrt.
Noch hat er nicht den eigenen Hunger
Zu stillen Zeit gehabt, noch wühlt er
Gierig in den Eingeweiden; da schreckt ein Knall,
Ein scharfer Knall ihn auf; er stürzt,
Vom sich’ren Blei getroffen, nah seinem Opfer
Zur Erde nieder, und aus dem Waldesdickicht tritt ein Mensch,
Ein Waidmann. Frohlockend senkt er seine Büchse
Und ohne Mitleid blickt er auf den Wolf.
“Warum, o Mensch, trifft mich dein Blei?
Was tat ich dir, dass angesichts des Schöpfers
Du deine Mordlust an mir kühlst?
Ist's meine Schuld, dass mich der Hunger und die Sorge
Um die junge Brut zum Morden zwingen?”
So rief der Wolf, im Todeskampf sich auf
Dem blutgetränkten Rasen wälzend, aus.
“Genug der Worte,” höhnt der Mensch, “du bist mein Feind,
Bist von dem Schöpfer selbst zur Beute mir gesandt.
Ihn klage an, nicht mich.”—
Und wieder rauscht es in den Zweigen;
Von Todesangst gepeitscht, stürzt aus dem Dickicht
Ein Hirsch, eien stolzes Tier, ein Sechzehnender;
Doch eh’ die Lichtung er gekreuzt
Und in dem dichten Walde Schutz gefunden,
Da trifft auch ihn ein sich’res Blei,
Und lautlos sinkt auch er zur Erde nieder.
Ein kurzer Todeskampf; er ist zu gut getroffen,
Schnell ist es mit dem edlen Tier vorbei.
Nicht aus des Jägers Rohre stammte Knall und Blei;
Nicht sein Schuss war es, der den Hirsch gefällt;
Ein Wild’rer war es, der das Tier getroffen
Und nun, die Büchse rauchend noch in seiner Hand,
Mensch gegen Mensch, dem Jäger gegenüberstand.
Halt! Steh! Die Büchse fort! so ruft der Jäger,
Zur eig’nen Büchse greifend, dem Wild’rer zu;
Doch schneller noch hebt der die Waffe,
Zielt, schiesst, und in das Herz getroffen
Sinkt zwischen Reh und Wolf und Hirsch der Jäger nieder.
Und höhnend ruft der Wilderer ihm zu:
“Was that ich dir, dass du mir drohend nahst?
Hat der allgüt’ge Schöpfer nur für euch allein
Das Wild im Wald geschaffen?
Nicht mich, den Schöpfer klage an, der mitleidslos
Den Hunger, den kein Gebet, kein Fleh’n
Zu dem Allmächt’gen stillen kann,
In alle Kreatur, sei’s Mensch, sei’s Tier, gelegt!”—
Begierig saugt die Erde Tau und Blut
Mit gleicher Wollust ein; des Himmels Blau
Lacht freundlich, wie zuvor, auf Feld und Au;
Und wie zuvor dringt milder Sonnenschein
Noch in die blumgeschmückte, blutgetränkte Erde ein.
Ein Waldidyll, ein Ort des Greu’ls,
Von Mitleid, Milde, Liebe und Versöhnung,
Von göttlichem Erbarmen keine Spur;
Nichts als der ew’ge Kampf der unerbittlichen Natur.
H. M.