Meine Mutter ist eine alte Frau,
Fünfundsiebzig wohl, oder mehr noch,
(Sie sagt es nicht gern).
Meine Mutter ist eine deutsche Frau,
Ist nur eine von so vielen Millionen — —
Meiner Mutter Haus steht am Rhein,
Ist ein frohes Haus und ein freies Haus,
Ist ein Künstlerhaus,
Das von Lachen scholl,
Wohl ein halbes Jahrhundert lang.
Nun machte die Mutter
Daraus ein Krankenhaus — —
Sechzehn Betten gab sie, und in jedem
Liegt ein Soldat.
Meine alte Mutter schreibt:
„In deinem Arbeitzimmer,
Mitten in deinen Schätzen,
Die du herholtest aus aller Welt,
Zwischen Bronzen aus China
Und den Südseegötzen,
Zwischen deinen Buddah’s,
— Und Schiwa’s und Krischna’s,
Liegt ein blutjunger Bursch —
Frisch vom Gymnasium kam er,
Achtzehn alt.
— Aber er sieht nichts von allen deinen Herrlichkeiten:
Sie stachen ihm beide Augen aus,
“In deinem indischen Zimmer
Liegt ein Sergeant.
Der lacht heute und spielt frohgelaunt
Mit all deinen kleinen Elephanten.
Er sagt immer: „Bald bin ich zurück im Feld!”
— Er liegt ganz fest in seinen Binden.
Sie schnitten ihm vorgestern
Beide Beine ab.
— Und er weiss es nicht.
„Im Zimmer, wo meine lieben Holländer hängen,
Die Teniers und Ostade, die Koekoek und Verboekhoeven,
Da liegt mit zerschmettertem Arm
Ein Dragonerleutnant.
Er versteht nichts von den Bildern und mag sie nicht —
Da hab ich ihm gestern
Ein Kaiserbild gekauft und übers Bett gehängt — —
— Du glaubst es gar nicht, wie er sich freute!
„Aber nebenan, wo deine Väter hängen,
Und Grossväter und Grossmütter —
Liegt ein Gardekapitän.
Der ist wie sein Leintuch so bleich,
Und er schläft zumeist,
Soviel Blut verlor er.
Doch wenn er wach ist, schaut er die Bilder an
Und spricht: „Der da war wohl schon
Siebzig dabei, bei Sédan!
Und der bei Grossgörschen vor hundert Jahr.
Und der alte da, der mit dem Zopf,
Der war bei Leuthen!”
„Im Balkonzimmer (dem zur linken Hand)
Liegt ein anderer Leutnant. Der liess sein Bett
Dicht ans Fenster rücken.
Er spricht nie ein Wort, träumt hinaus
In unsern Garten, und weit in den Klostergarten,
Wo die alten Mönche gehn.
Er hat eine Braut, die war in Paris,
Als der Krieg kam. — Und sie verschwand.
Und er hörte nichts mehr von ihr, garnichts.
„Vielleicht ist sie tot”, — denkt er. — „Vielleicht —
Vielleicht auch — —” Und dann seufzt er, stöhnt.
„Vielleicht —” Und er küsst ihr Bild.
— — Sie war sehr schön,
Seine arme, deutsche Braut — —
„Im Gartenzimmer liegt ein Rittmeister,
Der schimpft den lieben langen Tag.
Er hat einen Bauchschuss — das thut wohl sehr weh,
Und er merkt’s nicht so, wenn er schimpfen kann
Auf die Russen und Japsen und die infamen Engländer.
Wenn ich ihn frage, wie’s geht,
Sagt er immer: „Die gottverdammten Ratten
Haben mir ein Loch in den Bauch gefressen!”
„Einer ist da (im kleinen Fremdenzimmer),
Ein Oberleutnant der Zweiundachtziger,
Der hat einen Kopfschuss,
Aber nicht sehr gefährlich.
Der sagte gestern: „Doktor,
Ich hab’ fünfzigtausend Mark — —
Ich geb’ sie Ihnen, wenn Sie in drei Wochen
Mich zurechtflicken, dass ich zurück kann
Zur Front!” (So denken sie alle.)
„In deinem Schlafzimmer liegt ein Husar,
Der hat neunzehn Wunden, überall, überall!
Vom Schrapnellfeuer!
Sie brachten ihn, bewusstlos, vor vierzehn Tagen.
Er stöhnt sehr und schreit sehr —
Und ist noch nicht einmal aufgewacht
In den vierzehn Tagen.
Aber seine heisse Hand krampft sich
Um sein eisernes Kreuz.
Der Doktor meint: „Wir werden ihn doch
Sicher durchbringen! — Wenn er uns nur nicht
Verhungert!”
„Im Esszimmer liegen drei,
Ein Pionier und zwei vor der Infanterie,
So liebe, blonde Burschen.
Die zwei kommen auch schon durch;
Aber der Pionier
Wird uns wohl sterben,
Weil die Dum-Dum-Wunden
So sehr schwer heilen — —”
Von allem schreibt meine Mutter.
Von dem Ulanen im Frühstückzimmer,
Von den zwei Jägern im Herrenzimmer,
Von dem Herrn General,
Der im Staatszimmer liegt.
Von allem schreibt meine alte Mutter —
Nur von sich selbst
Schreibt sie kein kleines Wort.
Meiner Mutter Haus steht am Rhein,
— Ist nun ein Krankenhaus mit sechzehn Krankenbetten,
Und ist doch nur e i n solches Haus,
Von den vielen tausend in Deutschland.
Meine Mutter ist eine alte Frau,
Fünfundsiebzig wohl oder mehr noch —
Meine Mutter ist eine deutsche Frau —
— Und ist doch nur e i n e von so vielen Millionen!