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Träume.

Julius Segall


Der Tag entschwand.  Mit unhörbaren Schritten

Kam still die Nacht und legte Mutterhände

Voll Trost auf die gequälten, müden Menschen. —

Mir nahte nicht der holde Gott des Schlafes.

Ich wälzte ruhelos mich auf dem Lager:

Den Krieg sah ich das Edelste vernichten!

Und Tränen füllten meine heissen Augen.

Doch endlich kam auch mir der milde Herrscher

Und brachte mich in eine reiche Landschaft,

Wo Menschen sich im Glück zusammen freuten.

Fremd waren mir die Sitten und die Sprache;

Doch kam man mit Vertrauen mir entgegen

Und drückte mir so treu und warm die Hände,

Dass ich mich fremd nicht in der Fremde fühlte.

Ein Kirchlein war in diesem trauten Dörflein,

So stand es schon seit vielen hundert Jahren.

Die Glocken klangen wie vor grauen Zeiten,

Und als sie riefen, folgte ich der Menge.

Was sah ich dort, was durfte ich erblicken?

Ein Bildnis war es von der heilgen Mutter:

Den holden Knaben hielt sie eng umschlungen

Und sah mich an mit grossen, braunen Augen,

Auf ihren Lippen mild ein gütig Lächeln. —

Das Wunder packte so mein ganzes Sinnen,

Dass ich nicht dachte an den grossen Meister,

Dem es vergönnt war, dieses Werk zu schaffen. —

Da klangen wieder traut die alten Glocken,

Die Orgel tönte, und die Menschen sangen:

“O, Herr im Himmel, lass uns ewig Frieden!”


— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —


Als ich erwachte, graute schon der Morgen

Doch schlief ich wieder ein, und wieder brachte

Der Traumgott mich in jenes stille Dörflein.

Doch, was ich sah, war Grauen und Verwüstung.

Der Sturmwind heulte über blut’gen Feldern,

Die Menschen schleppten fort die letzte Habe —

Vernichtung lag in schuttbedeckten Gassen . . .

Das Kirchlein war nicht ganz vernichtet worden:

Das Meisterwerk, das mich vorher entzückte,

Das holde Bildnis fand mein Auge wieder.

Doch ach, es waren nicht die selben Züge.

Sie sah mich an so schmerzerfüllt und traurig,

Dass voller Schreck ich aufschrie und erwachte.



Segall, Julius. “Träume.” In Gedichte, 14–15. Milwaukee: self–published by Julius Segall, 1915.


Segall, Julius. “Träume.” In Gedichtem 14–15. Milwaukee: self–published by Julius Segall, 1915.

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